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"Meine Eltern hatten keine Chance“ – Ein ehemaliger Neonazi berichtet Live


Er sieht völlig „normal“ aus. Er kann sich sehr gut ausdrücken. Er ist intelligent und sympathisch. Eigentlich der Inbegriff des netten, jungen Mannes von nebenan. Aber die Geschichte, die er erzählt, ist schockierend. Es ist seine Geschichte. Die Geschichte eines Jungen, der zum Neonazi wurde. Und die Geschichte eines Neonazis, der ausgestiegen ist.
 
Felix Benneckenstein hat Mut. Er steht zu seiner Vergangenheit. Auch wenn es ihm manchmal sichtlich schwerfällt, weil er sich schämt. Ganz offen, spricht er darüber. Immer in dem Wissen, dass ihn das Kopf und Kragen kosten kann. Denn seine ehemaligen „Kameraden“ betrachten ihn als Verräter. Bei einer Tagung zum Thema „Islamhasser und Neonazis“ an der Akademie für politische Bildung in Tutzing (Bayern) hatte ich die Möglichkeit, Felix und seine Geschichte kennenzulernen. Einblicke in eine Szene zu bekommen, die wir als Journalisten oft nur von außen beschreiben können. Das war beeindruckend und erschreckend.
 
Da war die Rede von Frauen, die zwar im Hintergrund viel für Organisation und Ideologie tun, trotzdem als Autoritäten vor allem in der Kameradschaftsszene nicht anerkannt werden. „Frauen haben ihre Männer zu unterstützen“, erzählt Felix. „Bei Veranstaltungen schmieren sie Wurtsemmeln, schenken Bier aus und sehen im besten Falle dabei gut aus.“ Und vor allem eines sollen Frauen tun: Gebären. Um den „Volkstod“ zu verhindern. Das, so Felix, sei das Rollenbild, das die Neonaziszene der Frau zugedacht habe. Innerhalb der Szene. Nach außen hingegen spielen Frauen eine wesentliche Rolle bei der Verbreitung der rechtsextremen Ideologie. Insbesondere das Thema Erziehung ist ihr Steckenpferd. Rechtsextreme Frauen sollen als Erzieherinnen, Lehrerinnen, Elternvertreterinnen und in Vereinen aktive Rollen übernehmen. Sie wirken – anders als männliche Neonazis – weniger politisiert und schon gar nicht gefährlich. So haben sie es leichter, ihr Gedankengut unter die Leute zu bringen. Experten meinen, Erziehung sei das Zukunftsthema für die extreme Rechte, und rufen zur Vorsicht auf.
 
Felix sprach auch von Waffen und Gewalt, die ein großes Thema in der Szene seien. Regelmäßig werde bei Kameradschaftstreffen darüber diskutiert, wann es Zeit sei, zu den Waffen zu greifen und das System zu stürzen, wann die Revolution komme. Doch Neulingen machten die erfahrenen Kameraden klar, dass Waffen in der eigenen Wohnung tabu sind, damit sie bei Durchsuchungen nicht gefunden werden.
Wie er überhaupt in die Szene geraten sei, als Sohn bürgerlicher Eltern in einem ruhigen kleinen Ort in Bayern – Das wollten wir Journalisten von ihm wissen. Felix erklärte: „Die Szene ist letztlich überall. Das fängt schon mit der Musik an.“ In seinem Ort gab es Rechtsextreme, bei denen der beeinflussbare Teenager Eindeutigkeit und Zusammenhalt fand. Es war seine Art zu rebellieren. Und schlug mit der Zeit um: in Hass auf andere. Seine Eltern hätten alles getan, um ihn da raus zu holen, sagt Felix: „Sie haben alles richtig gemacht. Geredet, gestritten, verboten. Du kannst alles werden, aber kein Nazi, haben sie gesagt. Aber sie hatten keine Chance.
 
Jahre später hat Felix den Absprung aus eigenem Abtrieb geschafft. Eines Tages begannen die Zweifel an der Ideologie. Am Rassismus, an der Holocaust-Lüge. Erst leise, dann immer drängender. Im Gefängnis traf er Menschen in Abschiebehaft. Aus der gesichtslosen Masse der vermeintlich volksgefährdenden Ausländer wurden Menschen mit einer Geschichte und Gefühlen. Das war eins seiner Schlüsselerlebnisse. Und er hatte Glück: Er hatte eine Freundin, ebenfalls aus der Szene, und gemeinsam gingen sie den schwierigen Weg. Ein Weg, der gepflastert war von Angst, was aus ihnen werden würde, und Scham über das, was sie getan, gesagt, geglaubt hatten. Um andere zu unterstützen, aus der Neonaziszene herauszukommen, hat Felix die Aussteigerhilfe Bayern gegründet.
 
Die Geschichte von Felix zeigt: Die Gründe, warum Jugendliche in die rechte Szene geraten, sind vielfältig. Es sind längst nicht nur die vermeintlich minder intelligenten, gewaltbereiten Hohlköpfe aus schwierigen Elternhäusern. Und auch Studien belegen, dass rechtsextreme und fremdenfeindliche Einstellungsmuster in der Bevölkerung weiter verbreitet sind, als wir vielleicht wahrhaben wollen. Manche Studien sprechen von einem Wählerpotential für die extreme Rechte von 20 Prozent.
 
Deshalb haben wir in den vergangenen Tagen viel diskutiert. Darüber, wie wir als Journalisten mit dem Thema umgehen sollten. Eins ist dabei klar geworden: Ein Patentrezept gibt es nicht. Es helfen nur Augenmaß, gründliche Recherche und Einordnung für den Leser/Zuschauer/Hörer. In einem waren wir uns einig: Totschweigen ist keine Option. Wir müssen uns mit dem Extremismus auseinander setzen.
 

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